SCHEIN oder SEIN -was echte Führungskräfte ausmacht

Führungskräfte stehen derzeit unter enormen Druck: Einerseits gilt es, Ergebnisse zu erreichen und somit die Zukunft des Unternehmens bzw. der Organisation zu stabilisieren und zu sichern. Andererseits müssen Führende in der VUCA World Veränderungen und Übergänge herbeiführen und dabei disruptiv destabilisieren. Und nun noch das ganze aus dem Homeoffice heraus, aufgrund der Pandemie. Eine zusätzliche Belastung, bis der Spuk endlich vorbei ist, wann auch immer das sein wird. Der starke Widerspruch strengt an, kostet viel Energie und ist längst nicht immer machbar. Von Kontrollverlust bis Scheitern – alles ist möglich in diesen Zeiten des Übergangs und des Umbruchs. Und da hilft auch nicht der Traum von der “alten Normalität”, der offensichtlich gerne geträumt wird. Es wird sie nicht mehr geben, die Vergangenheit heißt so, weil sie vergangen ist. Was macht dieser Tage den Unterschied aus, zwischen solchen, die nur den Anschein erwecken Führende zu sein und solchen, die es in den volatilen Zeiten wirklich sind?

Wie scheinheilige Führungskräfte führen…

Der Duden definiert scheinheilig als “Aufrichtigkeit, Nichtwissen oder Freundlichkeit vortäuschend; heuchlerisch”. Scheinheilige sind also unaufrichtig, unehrlich und tun so, als ob sie es nicht besser wüssten. Sie geben Freundlichkeit vor, sie sind aber nicht freundlich. Kurz gesagt: Scheinheilige lügen und betrügen und das ganz bewusst. Scheinheilige Führende fahren taktische Manöver und versteckte Agenda, gleichzeitig wahren sie den Schein von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Klarheit. Sie heucheln und geben etwas vor, was sie wissentlich nicht sind. Sie sind eben nur dem bewusst inszenierten äußeren Anschein nach Heilige (heilig=abgesondert vom Bösen). Innen sind sie von allem anderen als dem Guten getrieben und lassen ihrer Bosheit freien Lauf. Leicht zu erkennen sind Scheinheilige Führungskräfte auf den ersten Blick oft nicht. Sie haben nicht selten ihre Tarnung perfektioniert. Doch eine alte Weisheit rät: Nimm Dich in Acht vor denen, die ihre Heiligkeit besonders plakativ betonen, sie haben nicht selten den größten Dreck am Stecken. Durch scheinheiliges Blenden versuchen sie, diesen zu übertünchen.

Bekannteste geschichtliche Beispiele für Scheinheilige sind wohl die Pharisäer in den neutestamentlichen Überlieferungen. Sie stellten sich nach außen als edel, ehrenwert und gut dar, waren aber innerlich bösartig, durchtrieben und verdorben. Sie führten Doppelleben und verurteilten ihre Mitmenschen für Dinge, die sie selbst im Verborgenen taten. Sie führten sich also als Führende ihrer Zeit in ihrer Verlogenheit und Heuchelei als Hüter der guten Regeln auf, ohne diese für sich selbst zu befolgen. Vermutlich besuchten sie Seminare in Selbstmarketing und Karriereoptimierung und lernten darin, wie man eben möglichst effektiv scheinheilig ist und deshalb auch Karriere macht oder als Unternehmer erfolgreich ist. Am Ende hatten sie, die Scheinheiligen, zwar das Sagen, aber niemals das Vertrauen der Geführten. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

Mitarbeiter durchschauen ihre Vorgesetzten sehr oft und sehen doppelte Moral und SCHEIN statt SEIN. Je nach Situation verweigern sie offen oder innerlich sich von den Scheinheiligen führen zu lassen. Die innere Kündigung findet in den meisten Fällen nicht etwa gegenüber dem Unternehmen, sondern gegenüber dem scheinheiligen Vorgesetzten statt. Hin und wieder wenden sich so Mitarbeiter an ihr Umfeld und bitten um Hinweise für Job-Angebote, weil sie es nach eigenen Worten “nicht mehr aushalten”. In vielen Coachings wird es von Mitarbeitern und Führungskräften als äußerst notvoll erlebt, wenn sie ihrem Chef aufgrund von Scheinheiligkeiten nicht vertrauen können. Sie möchten dem Vorgesetzten ja gerne vertrauen und ihm oder ihr auch nachfolgen können, unter den Bedingungen der Scheinheiligkeit jedoch belasten sie ihr Gewissen, wenn sie es tun. Die Folgen sind oft Fluchtphantasieninterne und externe Wechselpläne und auch innere Resignation und Ekel vor dem Vorgesetzten. Wie viel Performance, die dem Unternehmen zugute kommen könnten, verhindern solche negativen Führungsverhalten von Scheinheiligkeit? Eine gesunde Führungskultur sieht anders aus.

Wirklich Führungskraft SEIN

Aber mal ganz ehrlich: Kann es uns als Führenden immer und überall gelingen, wahrhaftig zu sein? Ist es überhaupt möglich und realistisch, ganz ohne jede Scheinheiligkeit auszukommen? Täuschen wir nicht alle ab und zu Aufrichtigkeit, Unwissenheit und Freundlichkeit vor und beabsichtigen in diesen Momenten taktisch kluges Handeln? Machen wir uns nichts vor; es gibt Situationen, in denen unser Geist zwar willig, unser Körper aber schwach ist und wir eben nicht zu unseren eigenen Werten wie Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Klarheit stehen! Wir versagen dann an unserem eigenen Anspruch als Führungskräfte. So geht es uns auch als Eltern gegenüber den Kindern. Es gelingt uns eben nicht immer, ein perfektes Vorbild zu sein und in der Erziehung immer alles richtig zu machen. Auch als Führungskräfte werden wir niemals perfekt sein. Auch wenn es natürlich nicht richtig ist, sich als Führungskraft scheinheilig zu verhalten, ist es leider Teil unseres Menschseins, dass es uns passiert. Das entschuldigt natürlich nicht, es gänzlich unversucht zu lassen und sich gar nicht mehr zu bemühen, nicht an sich zu arbeiten, weil man es ja ohnehin nicht perfekt machen kann. Gebraucht wird hier die gute Tugend der Großzügigkeit im Umgang mit sich selbst und Anderen, um auf souveränem Terrain bleiben zu können. Und genau hier sind wir an der eigentlichen Ursache für fehlende emotionale Intelligenz und fehlendes Sozialverhalten von Führungskräften, denen die Mitarbeitenden früher oder später die Gefolgschaft aufkündigen und weglaufen: Im Unvermögen, sich selbst mit der eigenen Unvollkommenheit annehmen zu können, liegt der Schlüssel zur Sozialkompetenz.

Eine Führungskraft, die mit sich selbst und dem eigenen Unvermögen nicht versöhnt gnädig umgehen kann, verfügt nicht über die Kompetenz, mit Mitarbeitenden konstruktiv umgehen zu können.

Vermutlich wird es niemals möglich sein, jedwede eigene doppelte Moral durch Bemühungen und Anstrengungen vollständig abzulegen. Und wer sich darin verkrampft, zwanghaft wahrhaftig und ehrlich sein zu wollen, ist irgendwann im moralischen Perfektionismus so sehr gefangen, dass er oder sie keine Zeit mehr hat, sich auf Leistung und Zukunft zu konzentrieren. Wer etwas bewegt, macht Fehler. Was nutzt eine ehrliche und wahrhaftige Führungskraft, die aber in der Sache eine Kompetenz-Flasche ist? Das ist zwar dann nett, sichert aber weder den eigenen Arbeitsplatz, noch die Zukunft. Also verabschieden wir uns einerseits besser davon, dass wir uns selbst zu perfekten (heiligen) Führungskräften machen könnten. Aber geben wir bitte zum Anderen dennoch den eigenen Anspruch, es gut machen zu wollen, niemals auf, weil es ja eh nicht ginge! Halten wir Maß und Balance und suchen wir die Selbstreflektion, um uns ständig zu verbessern.

SEIN heißt, sein Scheitern zu nutzen

Wenn wir als ehrgeizige Führungskräfte an unserem eigenen Anspruch scheitern, sind wir an einem sehr wichtigen Punkt für uns angekommen, den wir unbedingt nutzen sollten:

Sofern wir mutig genug sind, uns zu reflektieren, entwickeln wir NUR im Scheitern charakterliche Eigenschaften, die uns zu den Besten machen !

Wir sind dann dort angekommen, wo wir eine Chance auf Persönlichkeits- bzw. Charakterentwicklung haben. Eigentlich sollte uns das freuen, denn ohne solches Versagen an unserem eigenen Anspruch entwickeln wir nicht die Tugenden, die Führungskräfte dringend brauchen, um ihre emotionale Fürsorgepflicht wahrnehmen zu können und emotional intelligent mit ihren Mitarbeitenden umgehen zu können. So entstehen die für Erfolg erforderlichen Tugenden der Güte, Gnade oder auch der Geduld und nicht zuletzt zu nennen der Dienst(leistungs-)bereitschaft (Demut) erst dort, wo wir am eigenem Scheitern reifen.

Schwache Führungskräfte lassen sich nicht hinterfragen und reflektieren sich nicht, da sie Angst vor der Entdeckung der eigenen Unvollkommenheit haben. Sie machen sich selbst vor, sie müssten immer stark, überlegen und in Control sein. Ein Selbstkonzept, das sie bisweilen zu Despoten ohne wirkliche Gefolgschaft statt zu guten Führungskräften macht.

Als Führungskraft vom SCHEIN zum SEIN zu kommen – und echtes Führungsformat zu gewinnen – hat immer etwas mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Scheitern zu tun. Unser Scheitern verdrängen wir oft, wir wollen es nicht aushalten, uns den eigenen Abgründen in uns zu stellen. Doch es hilft uns enorm, weiterzukommen, wenn wir es tun. Als Mensch, als Führungskraft, als Partner/in, als Vater oder Mutter, als Freund/in,… Zwar ist längst nicht jedes Scheitern selbst verschuldet, oft aber haben wir einen Anteil daran, dass die Dinge so gekommen sind, wie eingetreten. Und nicht selten ist es unser Perfektionsanspruch, an dem wir scheitern. Gute Führungskräfte überwinden ihre Angst davor, sich selbst zu begegnen, indem sie sich Fragen wie Diesen wirklich öffnen.

Fragen zum Weiterdenken: Wo bin ich scheinheilig? Wo lebe ich selbst nicht die Werte, an die ich glaube? Wer in meinem Umfeld darf mir das mitteilen, ohne dass es Nachteile für ihn/sie hat? Welchen eigenen Anspruch habe ich resigniert aufgegeben? Wie gut geht es mir mit meinem Scheitern? Inwiefern ist es mir bisher gelungen, mit Scheitern umzugehen? Was habe ich daraus gelernt und inwiefern profitiert mein Umfeld von meiner Scheiterungskompetenz? Was möchte ich übers Scheitern dazu lernen?

Fazit

Als Führungkräfte leben wir ständig in der Gefahr, Scheinheilige zu sein. Am Anspruch, alles perfekt machen zu müssen, werden wir zwangsläufig scheitern. Vom SCHEIN zum SEIN zu kommen bedeutet, sich seinen inneren Abgründen des Scheiterns am eigenen Anspruch und der Wirklichkeit mutig zu stellen. Erst das Durchleben von Scheitern und Krisen macht uns echt, großzügig und sozialkompetent. Wer vor der Krise und seinem eigenen Scheitern wegläuft, leugnet, vermeidet, statt sie/es zu umarmen, bleibt in der Entwicklung des eigenen Charakters und der Sozialkompetenz stehen.

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Wenn Sie dieser Artikel angesprochen hat und Sie sich in der Betrachtung Ihres Scheiterns durch Coaching begleiten lassen möchten, um daran zu wachsen, sprechen Sie mich an, ich bin gerne für Sie da!

Ralf Juhre



Autor: Ralf Juhre
Ralf Juhre ist leidenschaftlicher Verhaltenstrainer, Berater, Coach und anerkannter Experte für Führungskräfte- und Organisationsentwicklung. Potenzialentfaltung, Querdenken und Horizonterweiterung sind bei ihm Programm. Seit fast 30 Jahren ist er im In- und Ausland unterwegs, um destruktive Verhaltensweisen und mentale Blockaden in Organisationen aufzudecken sowie Veränderungsprozesse erfolgreich zu initiieren und zu begleiten. Mit Gründung der ingenior training & consulting GmbH entstand ein Systemhaus, das auf Führungskräfte- und Organisationsentwicklung sowie Sozialkompetenztraining für Ingenieure und Techniker spezialisiert ist. Ralf Juhre ist zudem Autor zahlreicher Fachbücher für Führungskräfte und Manager.

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